1. Karneval in Oruro – wo Teufel und Engel marschieren

Auch dieses Jahr ging es mal wieder nach Südamerika – nach Bolivien und Peru. Eigentlich sollte man meinen, dass man nun langsam „alle Ecken“ dort kennen würde, aber das ist natürlich nicht so. Dieses Mal war ich mit meinem Kumpel Nico unterwegs… habe also sozusagen Reiseführer gespielt. Zu Zweit haben wir uns in ein ganz besonderes Spektakel gestürzt: den Karneval von Oruro – den größten Indiokarneval der Welt.
Seit Monaten bereiten sich die Einheimischen auf das größte Ereignis in Bolivien vor und aus dem ganzen Land reisen Tanzgruppen nach Oruro. Das ansonsten wenig vorzeigbare Oruro ist nun wild geschmückt und unvorstellbare Menschenmassen füllen jeden Quadratdezimeter der Stadt. Die ganzen umfangreichen Festivitäten zum Karneval dauern mehrere Wochen, aber der unbestrittene Höhepunkt sind natürlich die Tanzparaden am Faschingswochenende. Unvorstellbare drei komplette Tage dauert die Parade, die lediglich von Nachts zwei Uhr bis früh fünf Uhr kurz unterbrochen wird.
Am ersten Tag findet der Indioumzug statt. Aus nahezu jeder Region des Landes zieht nun eine Tanzgruppe, in der jeweiligen farbenprächtigen Tracht, über die sechs Kilometer lange Paradestrecke. Vorneweg wird ein Schild des Städtchens oder der Region getragen und dann kommen die Tänzer gefolgt von einer gewaltigen Anzahl Musikern. So eine Gruppe kann locker einige hundert oder tausend Personen groß sein. Um sich „fit“ zu halten, trinken die Teilnehmer alle erstaunlich große Mengen Bier und Schnaps. Besonders bei den Gruppen die erst am späten Nachmittag oder Abend starten, halten – alkoholbedingt – nicht alle bis zum Ende der sechs Kilometer langen Strecke durch. Einmal konnten wir beobachten wie ein total betrunkener Trompeter einfach an die Zuschauer „zur Pflege“ übergeben wurde. Die Gruppe zog weiter und das begeisterte Publikum versuchte den armen Kerl mit Bier wieder „frisch“ zu bekommen.

Am Samstag startet der wahre Höhepunkt des Karnevals: Der Maskenumzug. Es gibt verschiedene Kategorien von Masken, wie zum Beispiel Teufel, Bären, Engel, Frauengestalten und viele andere mehr. Die Teufel sind meist am beeindruckendsten. Die Masken sind überwältigend prunkvoll, groß und detailreich und teuer. Eine Maske kostet locker einige bolivianische Durchschnittslöhne. Jede Tanzgruppe repräsentiert einen Verein und diese Vereine wetteifern um die Gunst des enthusiastisch mitfeiernden, anfeuernden und gegebenenfalls schimpfenden Publikums. Die Kostüme wurden daher im Laufe der Zeit immer eindrucksvoller und kunstvoller und haben heute eine kaum noch steigerbare Qualität erreicht. Einige der legendärsten Gruppen arbeiten inzwischen sogar mit Feuerwerken an ihren Masken, sodass die Teufel tatsächlich Feuer speien können. Die Anzahl der Feuerstöße ist natürlich begrenzt und können während der stundenlangen Prozession nur selten gezündet werden. Das Publikum, auf hohen abenteuerlich selbst gezimmerten Tribünen sitzend, feuert die Tänzer daher in einem ohrenbetäubenden, begeisterten Chor unentwegt an: Fuego! Fuego! (Feuer! Feuer!)

Jeder Flammenstoß seitens der Tänzer wird dann frenetisch bejubelt, beklatscht und fachmännisch beurteilt. Am späten Abend, wenn die Stimmung schon angeheizt ist, kommt es manchmal zu regelrecht ekstatischen Momenten und spätestens dann kann sich keiner mehr dem Zauber dieser gigantischen Veranstaltung entziehen. Vermutlich geht es den meisten Tänzern ähnlich, denn viele geben den Rufen, Lockungen und Bettelleien des Publikums zu schnell nach und stehen dann regelmäßig am Ende der Parade – am finalen großen Tanzplatz – ohne Feuerwerk da.

Wir als Gringos (Weiße), wurden kaum beachtet. Es ist eben ein Fest von Bolivianern für Bolivianer. Natürlich gibt es Touristen, aber die spielen keine wichtige Rolle. Am späten Abend gingen wir zum mittleren Teil der Strecke, wo alles eher locker zugeht. Hier sind wir von Fremden auf ein Bier eingeladen worden und auch wir gaben Tänzern Bier aus, wir wurden wild und rüde weggeschubst, aber auch zum Mittanzen eingeladen, Betrunkene sangen mit uns und Betrunkene beschimpften uns, wir fotografierten die Einheimischen und die fotografierten uns… es war ein herrliches Chaos! Auf einmal stand völlig unvermittelt eine Deutsche in bolivianischem Tanzkostüm vor uns. Neben uns stand ein Bolivianer, der mitbekommen hatte, dass wir aus Deutschland sind und der wusste, dass in dieser Tanzgruppe eine deutsche Austauschschülerin mit tanzte, also hat er sie kurzer Hand aus der Formation gezerrt und zu uns gebracht. Vermutlich dachte er, wir müssten uns ja kennen. Taten wir aber nicht. Unser bolivianische Freund schien hochzufrieden, schließlich redeten wir nett miteinander, mussten uns also kennen… hat er es doch gewusst!

Ende Teil 1

2. Aus einer Weltmetropole in zehn Stunden Fußmarsch ins Mittelalter

Nun ja, ein wenig reißerisch ist die Überschrift schon, aber nicht wirklich falsch. Wir sind nach einigen Tagen in Oruro und Uyuni (über beide Orte berichtete ich bereits) angekommen in Potosi. Wer meine Berichte schon länger verfolgt kennt auch diesen Ort bereits. Potosi ist eine Minenstadt im Süden Boliviens und der unglaubliche Reichtum an Silber im Cerro Rico („Reicher Berg“) stellte einst 80% der kompletten Silberförderung der gesamten, gigantischen spanischen Kolonialreiches dar. Die auf 4.000 Metern Höhe gelegene Stadt  wurde daher von den Spaniern mit Hochdruck zur größten Stadt seiner Zeit, größer als Madrid, London, Paris u.a.,  ausgebaut – eine wahre Metropole.

Die katastrophalen Zustände in den Minen kannten wir bereits (siehe Bericht:  Südamerika 2008 –quer durch!), dieses Mal wollten wir die Umgebung der Stadt ein wenig erwandern. Pastor, ein junger Mann, berichtete von einer einzelnen Hütte hoch oben in den Anden. Würden wir bei diesen Lamazüchtern übernachten, bräuchten wir kein Zelt schleppen und es wäre mal wieder eine Gelegenheit nah an die Menschen heran zu kommen. Wir kauften also ordentlich Coca als Gastgeschenk und brachen am nächsten Morgen auf. Am Ortsrand von Potosi starteten wir und es dauerte nicht lange und wir waren zwischen den ersten Lamaherden unterwegs. Nach kurzer Zeit trafen wir keinen Menschen mehr, nur ein – zwei Mal entdeckten wir die Kinder, welche die Lamas beaufsichtigten, meist versteckten sie sich aber vor uns.

Das Gelände stieg stetig an und der Aufstieg zu einem mehr als 5000 Meter hohen Pass brachte uns arg ins Schnaufen. Unser neuer Freund Pastor war sehr altmodisch und so opferten wir Pacha Mama („Mutter Erde“) auf dem Pass Cocablätter und Schnaps und natürlich passte Pastor gut auf, dass auch ausreichend Opfergaben in seinem eigenen Mund landeten ;-) Hinter dem Pass begann es zu regnen und bald mischte sich Graupel zwischen die Tropfen, aber es war nicht mehr weit…laut Pastor. Das Gelände war nicht wirklich schwierig, aber der Regen hatte das weglose Tal, in das wir nun hinunterstiegen, doch ziemlich aufgeweicht. Immer wieder sahen wir klatschnasse Viscachas und Lamas und selbst waren wir auch durchweicht, müde und zunehmend verärgert, da uns Pastor seit Stunden versicherte, wir wären gleich da. Auch begann er seit einiger Zeit die vorerst hochgelobten Vorzüge der Unterkunft zu relativieren. Don Pedro, der Lamazüchter, hatte nun auf einmal kein Extrazimmer wo er immer mal wieder Wanderer aufnimmt, sondern ER hat ein Zimmer und da hätte er wohl schon mal einen Gringo aufgenommen…hätte ihm jemand erzählt. Uns wurde bei der zunehmenden Tiefstapelei unseres Führers langsam angst und bange.

Als wir nach circa zehn Kilometern hinter dem Pass, statt den angekündigten zwei Kilometern, endlich eine Art Gehöft erreichten waren wir positiv überrascht: vier kleine Hüttchen standen im Karree, darum herum viele Dutzend Lamas. Ärmlich, sehr ärmlich, aber fast ein wenig idyllisch. Wir riefen nach Don Pedro und es geschah…nichts. Es rührte sich nichts, egal wie laut wir brüllten, es wurde dunkel, es regnete weiter und wir warteten, von den vier Hofhunden argwöhnisch beobachtet, auf den Hausherren. Nach langer Zeit, wir überlegten inzwischen wie wir ohne Zelt übernachten könnten, rührte sich etwas an der Tür. Eine kleine, vermummte Gestalt schob sich ächzend über den finsteren Hof. Wir blickten uns ziemlich erschrocken an und leuchteten schnell mit unseren Lampen. Eine maximal 1,50 m große, uralte Frau in ein Dutzend Decken gehüllt schaut uns verdutzt an. Es stellte sich schnell heraus, dass sie die Mutter von Don Pedro ist. Sie ist fast taub und konnte uns daher nicht hören. Sie wollte nur zufällig auf Toilette gehen. Nachdem ihr Pastor erklärte wer wir sind und was wir vorhaben, ließ sie uns in ihre „Küche“. Sie selbst sprach kein Spanisch, nur Quechua, die Sprache der Inkas und so dolmetschte Pastor. Don Pedro ist mit dem Pferd in der Stadt, sollte allerdings schon vor drei Tagen zurück sein. Wir könnten auch hier übernachten, sie kaute schon zufrieden unsere Cocablätter, nur müssten wir uns selbst ein wenig Platz im Kartoffelschuppen machen. Zuerst zogen wir uns trockene Sachen an, dann schaufelten wir die Kartoffeln beiseite um Raum für unsere zwei Isomatten zu bekommen. Nun gab es keinen weiteren Platz mehr in dem Miniraum und so schlief dann später Pastor auch mit bei uns auf den Isomatten.  Inzwischen machte der sich allerdings ganz fleißig in der „Küche“ zu schaffen. Diese Küche ist es wert beschrieben zu werden: Mit einem reichlichen Meter Breite und circa 2,5 m Länge ist sie nicht groß. Ein Strohsack und ein 20 Zentimeter hoher Hocker sind alle Möbel und an den Wänden hängen ein paar rußschwarze Töpfe. An der Stirnseite mit der Tür, die nur circa 1,2 Meter hoch ist, befindet sich eine offene Feuerstelle. Da es kein Abzug für den Rauch gibt, sammelt sich dieser in dem Raum bis er durch die Tür abzieht. Nun wissen wir auch warum es keine erhöhten Sitzgelegenheiten gibt – man kann es über ein Meter Höhe sowieso nicht aushalten. Gefeuert wird mit Yareta, einer getrockneten moosartigen, aber sehr harten Hochgebirgspflanze, die dummerweise dazu neigt stark zu qualmen.

Pastor versucht mit der Frau zu sprechen, aber die schimpft nur unentwegt auf ihren Sohn, der sie so allein lässt und kaut fleißig unsere Cocablätter. Nur so viel erfahren wir, sie ist schätzungsweise, niemand weiß es genau, 80 Jahre alt und hat seit 50 Jahren das Tal nicht verlassen. Unglaublich! Während Pastor uns ihre und später auch seine Geschichte erzählt, kocht er für uns alle. Nach einem ziemlich guten Essen brennen und tränen uns die Augen, nur die Hausherrin knabbert fröhlich Coca….sie ist den Qualm schließlich seit fast 80 Jahren gewöhnt.

Für Don Pedro hatten wir als Überraschung eine kleine Flasche Singani (Traubenschnaps) dabei. Nach dem anstrengenden Tag, dem Schreck vor verschlossenen Türen zu stehen und dann doch einem warmen Abendessen im Trockenen, genossen wir alle zusammen einen herrlich geselligen Abend in der Abgeschiedenheit der Hochanden. Die Hunde hatten uns inzwischen akzeptiert und kamen auch noch in die Miniküche um sich zu wärmen und einmal steckte sogar ein Lama den Kopf zur Tür hinein…ein unvergesslicher Abend. Als wir uns auf unseren Isomatten schlafen legen wollten, mussten wir erst die Hühner wieder verjagen….was uns inzwischen völlig normal vor kam.

Am nächsten Tag erkundeten wir noch ein wenig die herrliche Umgebung, bevor wir uns von der – natürlich Coca kauenden – Hausherrin verabschiedeten. Noch ein paar entspannte Stunden Fußmarsch und wir erreichten ein Dorf mit Straßenanschluss. Von dort kehrten wir mit dem Bus zurück…aus dem Mittelalter in die Gegenwart.

Ende Teil 2